Der Heidelberger Genius Loci 

Wenn eine Stadt in Deutschland für sich diesen lokalen Spirit, den genius loci für sich beanspruchen kann, dann Heidelberg. Hölderlin hatte nicht umsonst in seiner Ode auf Heidelberg von der Vaterlandstädte schönsten gesprochen. Seine nachgereichte Einschränkung - so viel ich sah – ist weniger eine entschuldigende Bescheidenheitsformel. Er verstand es wohl eher als Feier der Fülle, der Augenfülle, die sich ihm in Heidelberg darbot. Schöpferische Fülle - theologisch Pleroma – ist das Kennzeichen der Wirkung des Geistes. 

Diese ästhetische Fülle hat viele Gründe, die erst die kosmopolitische Komposition Heidelberg bilden. Und es sei gleich vorweg gesagt, dass die Gegensätze, die sich in dem Stadtkosmos verbinden, durchaus auch zerstörerische Wirkungen zeigten. Die künstlichen Implantate in den administrativ verursachten Bombenkratern erkennt auch der Erstbesucher bei einem Streifzug durch die Stadt leicht. 

Was also macht den Reichtum der Erscheinung Heidelbergs aus? Die Gegensätze zu allererst. Die Altstadt ist wie ein Pfropfen in eine Flasche hineingetrieben ins Neckartal. Die Enge wirkt aber nicht übermäßig, da der Odenwald als Mittelgebirge keine schroff abweisenden Felshänge der Stadt zukehrt; eher prägen abfallende Hänge das Königstuhl im Süden und des Gaisberges im Norden das Landschaftsbild. Beim Verlassen des Tales weitet sich die Stadtsiedlung in alle Richtungen und Neuenheim, Kirchheim, Rohrbach, Pfaffengrund sowie Handschuhsheim und die neu hinzugekommene Bahnstadt  entfalten sich in die Rheinebene. Enge und Weite in einem, Konzentration und Entfaltung, Systole und Diastole - wie Goethe das pulsierende Lebensprinzip benannte - manifestieren sich in der Lage Heidelbergs. 

Der Grund der Stadt ist, abgesehen von dem Schwemmgeröll des Neckars, Sandstein. Die meisten bedeutenden Gebäude der Stadt sind aus dem mattroten Sandstein gebaut: Schloss, Heilig Geist- und Jesuitenkirche,  Providenzkirche, Alte Brücke und die Tiefburg. Aber an manchen, teils verborgenen Stellen stößt Heidelberg auf das Goethesche Urgestein vor, den Granit. Der Schlossgraben selbst weist einen Aufschluss auf, und wer sich auf touristisch abgelegenere Pfade begibt, stößt auch auf dem Valeriepfad, der Teufelskanzel oder der Hirschgasse auf Granitkonglomerate. 

Sprechen wir vom Klima – die Tal-Lage erstreckt sich von West nach Ost - selten ist es im Tal windstill. Wie ein Windkanal konzertiert das Neckartal die Luftströmung. Im Winter kann dann der Ostwind beißend kalt ins Gesicht fahren und die Temperaturfühlung täuschen. Im Ganzen gesehen hat Heidelberg ein mildes Klima, das die Vegetation begünstigt. Besucher können sich beim Besuch des Botanischen Gartens davon überzeugen, v.a. aber wenn sie an einem milden April- oder Maitag den Philosophenweg erklimmen und die Blütenwelt der anliegenden Gärten bewundern. Alte Weinkulturen an Steinberg und Hirschgasse und neue, gepflegte in Rohrbach und Handschuhsheim beweisen ein Übriges. 

Über dem Portal des Gebäudes der Neuen Universität steht in abgesetzter Schrift: dem lebendigen Geist. Heidelberg wäre nicht Heidelberg ohne die kaleidoskopische Widerspiegelung seiner zahllosen Realitäten im Geiste der Dichter und Denker. Ein stetiges Geben und Nehmen, Einwohnen und Bilden bildete über die Jahrhunderte ein einmaliges mediales Palimpsest, eine Komposition zahlloser sich überlagernder Schriften und Bilder, die in ihrer Vieldimensionalität unendliche Stadtfacetten bilden. Eine Stadt, in der die Steine und Wege medial und die Medien Stein und Weg werden. Eine multimaterielle semiotische Matrix des Genius loci sozusagen.  

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